Cover
Titel
Brüchiges Schweigen. Tod in Ravensbrück – auf den Spuren von Anna Burger


Autor(en)
Halbmayr, Brigitte
Erschienen
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Lenski, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Der Wiener Mandelbaum-Verlag hat wieder einmal eine Überraschung publiziert. Diesmal ist es die wissenschaftliche Biographie einer als „asozial“ verfolgten Frau; in der wissenschaftlichen Publizistik eine seltene Ausnahme. Es geht um die Österreicherin Anna Burger geb. Lasser, die 1943 mit 30 Jahren als „Asoziale“ im Konzentrationslager Ravensbrück ermordet wurde.

Der Anspruch des Buches ist es, sich möglichst dicht der Person und Familie von Anna Burger zu nähern und ihr Schicksal im Kontext ihres eigenen Handelns, der Repressionen, Zuschreibungen und institutionellen Begründungen zu ergründen. Nicht nur Situatives, sondern die Langzeitperspektive des Erlebten über die Erfahrung bis hin zur reflektierten Vergangenheit sollen dargelegt werden. Sowohl die Perspektive der Protagonistin, doch auch die der Eltern, der Kinder, des Ehemannes und der Nachgeborenen sollen rekonstruiert werden. Drei Fragekomplexe sind leitend, deren erster sich der Geschichte und Wirkung der Stigmatisierung als „asozial“ widmet. Zweitens fragt die Autorin nach den generationellen Wirkungen und Tradierungen; drittens nach der Reflexion der Stereotype in Sprache, Familie und Gesellschaft. Es ist ein Buch, das auf vielen Jahren engagierter Forschung aufbaut und kritische Aufarbeitung von Geschichte im Sinne des „negativen Gedächtnisses“ demonstriert.1

Den Anstoß für das Buch gaben die rastlosen Bemühungen von Siegrid Fahrecker, der Enkelin der Protagonistin. Sie schloss an die Versuche ihrer Mutter und ihrer Großtante an, das Schicksal der Mutter beziehungsweise Schwester zu klären. Seit den späten 1960er-Jahren bauten diese trotz innerer und äußerer Widerstände Kontakte zur Gedenkstätte Ravensbrück auf. Am Ende der 1990er-Jahre führte diese Gedenkstätte das Ausstellungsprojekt „Wege nach Ravensbrück“ durch. Für dieses dokumentierte die Wiener Historikerin Corinna Oesch lebensgeschichtliche Interviews mit den beiden Töchtern von Anna Burger, recherchierte im Wiener Stadt- und Landesarchiv und übergab das Material schließlich der Familie. Siegrid Fahrecker hat nun der Autorin, der Sozialwissenschaftlerin Brigitte Halbmayr, das Familienarchiv geöffnet und ist gemeinsam mit ihr weiteren Spuren von Anna Burger nachgegangen.

Lange Zeit war die Großmutter im Familiengedächtnis unsichtbar. Da sie „etwas angestellt“ (S. 7) habe, deshalb nach Deutschland in ein KZ gekommen und nicht zurückgekehrt sei, dürfe man niemandem etwas über sie erzählen. Ihre eigenen Kinder konnten sich kaum an sie erinnern, sodass ihre Spuren verwischt waren. Das Geheimnis trieb die Enkelin wie auch zuvor deren Mutter und Großtante um. Als sie im Jahr 2000 zur Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück stieß, lernte sie dort die Autorin Brigitte Halbmayr kennen. Seit 1995 hatte diese am Institut für Konfliktforschung in Wien (IKF) gemeinsam mit ihrer Kollegin Helga Amesberger ebenfalls zahlreiche Verfolgte interviewt und dazu publiziert.

Die Quellenlage ist dennoch für die als „asozial“ Gestempelten nicht nur deshalb defizitär, weil sie einer abwertenden Gruppendefinition ausgesetzt waren, mit der sie sich nicht identifizierten. Sie waren nicht nur den Zuschreibungen der Tätergesellschaft, sondern auch der Mitleidenden und Überlebenden ausgesetzt (S. 89–95). Ihre offizielle Anerkennung als NS-Opfer erfolgte zu spät, um die Fremdzuschreibungen im Gedächtnis der Familien und im öffentlichen Diskurs zu korrigieren. Jedoch ist „Asozialität“ kein eindeutiges Merkmal, sondern ein willkürliches und zeitabhängiges Konstrukt, welches durch seine kategoriale Unklarheit zu verschiedenen, doch immer abwertenden und ausschließenden Zwecken nutzbar ist. Problematisch ist die Vereindeutigung in den Behördenquellen mit Kausalzusammenhängen scheinbar selbstverständlicher Wörter, die sich aber einem konkreten Sachzusammenhang entziehen, die somit bereits mit Vorurteilen gefüllt sind. Obwohl für das Buch neben diversen Archiven auch ein Nachlass aus dem Familienarchiv von Siegrid Fahrecker genutzt wurde, sind die Lücken deshalb immens. Sie können auch durch Zeitzeug:innenauskünfte nur teilweise wettgemacht werden, zumal Tagebücher nicht und Briefe nur ausnahmsweise überliefert sind. Dennoch bergen diese Splitter zum Teil essentielle Puzzlestücke, so die (zum Teil lebensgeschichtlichen) Interviews mit Familienmitgliedern und Ravensbrück-Überlebenden, die entweder eigens für das Buch geführt oder aus dem Bestand des Ravensbrück-Archivs am Institut für Konfliktforschung in Wien oder dem Loretta-Walz-Videoarchiv in Ravensbrück nachgenutzt wurden.

Die Gliederung folgt zwar einem chronologischen Schema, doch wird diese durch Vor- und Rückblenden unterbrochen. Beinahe durchgehend werden die Kapitel von Betrachtungen der Ehe, deren Zerrüttung sowie zu Äußerungen des Ehemannes begleitet, was zur Frage führt: Hätte es sie gerettet, wenn er weniger brutal mit ihr umgegangen wäre, wenn er sie nicht vor den Behörden abgewertet und denunziert hätte? Die Frage der Geschlechterrelationen führt vor Augen, dass die Zuschreibung gegen Frauen als „asozial“ eng mit Rollenklischees und patriarchalem Blick verbunden sind, was die Rahmenbedingungen des Nationalsozialismus und die Möglichkeiten der NS-Organisationen, so beim Ehemann die SA-Mitgliedschaft, verschärften.

Wer war Anna Burger? Geboren 1913, verlebt sie nach dem ersten Weltkrieg Kindheit und Schule in einer Zeit voller Krisen und Nöte. Als sie 1927 mit dem Abschluss der vierten Klasse die Schule verlässt, hat sie viermal die erste Klasse wiederholt; in diesen Jahren hat sie die Schule in den kalten Monaten ohnehin meist nicht besuchen können. Die fehlenden Informationen zur Situation nach der Schulentlassung werden nun durch Erörterungen zur desolaten Wohnraumlage in ihrem Wohnort Klosterneuburg bei Wien ersetzt. Sie schlägt sich als Hausgehilfin und Kindermädchen, später auch als Fabrikarbeiterin durch. Die nun zweifache Mutter wechselt seit 1931 häufig die Wohnung; der Kindsvater ist meist abwesend, zu einer Heirat kommt es nicht. Mit 22 Jahren ist sie bereits so verzweifelt, dass sie in ihrem Testament verfügt, die beiden Kinder in der Obhut ihrer Mutter zu belassen, sollte sie sterben. Auch die der Obdach- und Arbeitslosigkeit folgende Ehe mit Karl Burger seit 1935 kann ihre Situation nicht wirklich bessern, da auch dieser weder über Arbeit noch Wohnung verfügt, sodass sie bis 1938 teils gemeinsam, teils getrennt als „Mietnomaden“ umherziehen. Seit 1939 lebt Anna als Bettgeherin in einer Wohnküche; die desolaten Erwerbs- und Wohnverhältnisse führen schließlich zum vorläufigen Zerfall der Ehe und einem Eherechtsstreit, was ein drittes gemeinsames Kind wettzumachen scheint. Das dauert nur kurz, da die Not sie verführt, im Januar 1940 Kinderwagenüberzüge und Decken zu stehlen, worauf sie kurz darauf am 15. Februar in das Untersuchungsgefängnis beim Landgericht Wien abgeführt wird. Bereits ein Vierteljahr darauf soll sie nach dem Willen der Kriminalpolizei als „Asoziale“ in ein Konzentrationslager verbracht werden. Doch zunächst sitzt sie die einjährige Haftstrafe ab; das Lager steht nach wie vor im Raum. Nach ihrer Rückkehr wartet am 25. April 1941 nicht die Freiheit, sondern das Konzentrationslager Ravensbrück, während der Scheidungsprozess noch schwebt. Dort stirbt sie nach zahlreichen Torturen am 2. Dezember 1943 durch eine Giftspritze; offiziell wird dies vertuscht.

Die wissenschaftliche Biographie einer Frau, die als „asozial“ stigmatisiert worden ist, wurde noch kaum geschrieben; zumal einer Frau, die jahrzehntelang vergessen war. Jahrzehntelanges Vergessen aufzuspüren und es sprachlich zu verarbeiten heißt, sich durch meilenweiten Nebel aus Vorurteilen und moralischen Stolperfallen zu tasten. Die Facetten des Überlebens dieser vergessenen Frau werden auf verschiedenen Ebenen gezeichnet. Sie zeigen eine mehrfache, faktisch alleinerziehende Mutter in Armut neben einem brutalen und sorgevergessenen Ehemann. Zu der fragilen, brüchigen Geschlechtersolidarität kommen fehlende Chancen angesichts einer restriktiven institutionellen Praxis gegen Normabweichlerinnen sowie das Einmünden in die Gewaltpraxis des Nationalsozialismus über sexualisierte Gewalt bis hin zum massenhaften Morden. Es wird die Vielschichtigkeit der Problemlagen gezeigt sowie der Umgang der Protagonistin mit Mangel, Kälte und Einsamkeit. Deutlich wird, dass das Label der „Asozialität“ der Lebenslage der Protagonistin nicht nur nicht gerecht wurde, sondern letztlich die Begründung für deren Verfolgung und Ermordung lieferte. Die institutionellen Akteure handelten zunächst unterschiedlich und nicht nur restriktiv, allerdings mit zunehmender Härte (so S. 34f. oder S. 46f.). Dabei fragt sich, inwieweit das Schicksal von Anna Burger paradigmatisch für die im Ersten Weltkrieg aufwachsenden Mädchen der Unterschicht stehen kann. Weiter werden Fragen zur Thematisierung und zur Verarbeitung der transgenerationellen Traumatisierungen bei den Kindern und Enkel:innen gestellt, durch welche die im Titel benannte Brüchigkeit plastisch wird.

Neben all dem Lob gibt es auch Mängel. So wäre es zu wünschen gewesen, zunächst die Geschichte von Anna Burger zu lesen, um anschließend die kontextualisierenden Informationen zu erfahren. So braucht es etwas Geduld, um sich durch die Exkurse zur Lebensgeschichte zu arbeiten. Möglicherweise ist dies intendiert, denn auch die Spuren von Anna Burger waren alles andere als leicht zu finden. Die chronologischen und thematischen Wechsel könnten durch die stärker analytische Thematisierung von Armut, Behördenhandeln, Geschlechterrelationen und Gewalt einige Wiederholungen reduzieren. Die Sprache irritiert hin und wieder. Wenn zum Beispiel eine „längere Haft“ drei Monate dauerte, steht die Frage nach den Bezugspunkten (S. 32). Hin und wieder hätte gekürzt werden können, doch möglicherweise liest eine informierte Rezensentin anders als ein weniger informiertes Publikum.

Angesichts des herausfordernden Themas und der brüchigen Quellenlage ist das Buch auch als ein Beispiel zu empfehlen, das die Möglichkeiten und Grenzen historischen Arbeitens aufzeigt. Es gibt tiefen Einblick in die Geschichte der als „asozial“ Stigmatisierten vor 1945 sowie der Reflexionen und meist ausbleibenden Thematisierungen nach 1945. Es zeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit der NS-Gedenkstätten mit den Familien und der Fachwissenschaft, das empathische Sprechen (und Verstehen) der Expert:innen mit den Nachlebenden sowie deren Engagement bis heute sind, damit sich die Familiengedächtnisse aus den Zonen des Schweigens und damit aus der Akzeptanz der Gewalt gegen die Opfer befreien können. Mit der Familie von Anna Burger demonstriert es die Verflechtung der langwährenden Folgen von gesellschaftlichen Stigmatisierungen mit persönlichen Selbstbildern und familiärer Kommunikation. Es demonstriert, wie viel Mut, Vertrauen, Geduld und Beharrlichkeit es insbesondere für die Nachlebenden braucht, um aus den einsamen Selbstbeschuldigungen zu finden, die Blockaden aufzuspüren und zu reflektieren. Das wird hier beispielhaft gezeigt; ein weiterer Schritt auf einem langen Weg.

Anmerkung:
1 Vgl. mit Bezug auf Reinhart Koselleck jüngst Volkhard Knigge, Jenseits der Erinnerung – Verbrechensgeschichte begreifen, in: ders. (Hrsg.), Jenseits der Erinnerung – Verbrechensgeschichte begreifen, Bonn 2022, S. 9–34, hier S. 11f.